Corona, Körper und Containment

Eine der eindrücklichsten Erfahrungen der Pandemie ist das gleichzeitige Kippen zahlloser Menschen in Funktionsmechanismen der paranoid-schizoiden Position. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – unser Wissen über das Virus bestenfalls als lückenhaft bezeichnet werden kann, beurteilten viele von uns recht unmittelbar, wer sich in unserem Umfeld richtig oder falsch verhält, wer paranoid oder wer naiv mit der Situation umgeht.

Die zugrundeliegenden Abwehrmechanismen sind uns aus dem Behandlungszimmer bestens bekannt. Spaltung, Verleugnung und projektive Mechanismen sind extrem potente Werkzeuge des psychischen Apparats, um katastrophale Ängste abzuwehren. Die daraus resultierende Reduktion von Komplexität erleben wir als zutiefst beruhigend. Wenn wir wissen, wer es richtig und vor allem wer es falsch macht, müssen wir unsere Ängste nicht mehr spüren, geschweige denn den schwierigen Prozess der fortwährenden Neuorientierung in einer sich unablässig verändernden Situation immer wieder neu auf uns nehmen. Als Analytiker*innen begegnen wir paranoid-schizoiden Mechanismen mit Verständnis und bieten Einsicht in die gefühlte Notwendigkeit der Abwehr. Aber jedes Verständnis, jede Deutung geht ins Leere, wenn der Rahmen der Behandlung nicht sicher ist. Um eine Lockerung relativ gut funktionierender Abwehrmechanismen überhaupt zu erwägen, müssen sich unsere Patient*innen auf die wohlwollende Regelmäßigkeit der therapeutischen Beziehung verlassen können. Sicherheit entsteht auch durch die ritualisierte Wiederholung, durch die fortlaufend sinnlich-performativ bestätigte Kontinuität des Raumes. Um ein Durcharbeiten namenloser Ängste zu ermöglichen, stellen wir sowohl uns selbst als verlässliche Objekte, als auch den dafür erforderlichen physischen Rahmen für einen unbestimmten Zeitraum zur Verfügung.

Die Pandemie hat durch den gebotenen Sicherheitsabstand ein Aufrechterhalten des Rahmens massiv erschwert. Insbesondere im Kontext der gefühlten körperlichen Bedrohung durch das Virus verarmte der analytische Raum durch die Abwesenheit der Körper. Mit der Rückkehr in die Behandlungszimmer wird effektives Containment wieder möglich. Wir haben berechtigten Grund zur Annahme, dass dadurch im Laufe der Zeit Angst und Trauer erlebbar werden, mehr zur Sprache kommen und Denken wieder möglich wird.

Sebastian Thrul