Eine Krise der Entfremdung

(von Christian Kläui)

„There is a crack in everything, that’s how the light gets in“
Leonard Cohen

In diesen Tagen gibt es wohl kaum ein Gespräch, in dem nicht die Coronapandemie zum Thema wird. Man muss begreifen, man muss verdauen, man muss sich einrichten – wir tun dies, indem wir sprechen, sprechen, sprechen, schreiben und lesen.

Der Grund dafür ist gewiss nicht nur die Angst vor einer Ansteckung, die uns und unsere Nächsten bedroht, und auch nicht, dass die Sache unter den verschiedensten Aspekten einfach sehr interessant ist. Elementarer ist etwas Unentrinnbares, mit dem wir in diesen Krisenzeiten alle konfrontiert sind und das wir verarbeiten müssen: Eine Entfremdung.

Die Massnahmen, die zum Schutz der Bevölkerung unerlässlich geworden sind, drücken uns ihren Stempel auf. Wir werden versammelt unter bestimmten Namen: «Homeoffice», «Risikogruppe», «Social Distancing», «Arbeitsverbot», «Ü65» usw. Namen, mit denen wir uns identifizieren müssen, unabhängig davon, ob wir uns damit anfreunden können oder nicht. Die Vielfältigkeit der Menschen und die Besonderheit jedes Einzelnen verdampft unter der Wucht dieser symbolischen Zuschreibungen. Angerufen unter den Geboten der Stunde kann man sich nicht auf individuelle Besonderheiten berufen.

Diese Entfremdung bleibt nicht äusserlich. Es sind nicht einfach Einschränkungen und Zwänge, denen wir uns für eine vorübergehende Zeit fügen müssen wie dem Anhaltegebot vor der roten Ampel. Sondern sie berührt tiefere Schichten von uns selbst, weil in ihr etwas Resonanz findet, was für die psychische Entwicklung überhaupt grundlegend ist. Jedes Menschenwesen wird in eine Welt geboren, die ihm Namen gibt, angefangen mit dem Eigennamen, und Eigenschaften zuschreibt. Es wird sich damit identifizieren, soziale Einbettung und Bindung finden und doch nie ganz damit eins sein können. Irgendwo, mehr oder weniger schmerzhaft, mehr oder weniger bewusst, werden Gefühle bleiben, «anders» zu sein, sein «Eigentliches» nicht ganz fassen und aussagen zu können, und ein Suchen nach einer versperrten Wahrheit wird nicht aufhören.

Dieser Entfremdung kann man nicht entgehen, sie gehört zum Leben, immer wird sich etwas nicht ganz fügen – und aus dem, was sich nicht fügt, schöpfen wir, schöpfen wir uns. Einkehr in eine Identität, die vom Andern kommt, und Aufbruch in eine Fremde, die das Eigene sei, das sind elementare Lebensbewegungen. Oszillationen, die spannend, angespannt, ja zerreissend sein können.

Das zeigt sich jetzt auch in der Zeit der Coronapandemie: Bindend die verhängten medizinisch-hygienischen Massnahmen und zerstreuend die unterschiedlichsten Wünsche jedes Einzelnen. Ein Spannungsverhältnis, das sich in verschiedene Richtungen ausbuchstabieren kann. Man kann es aushalten oder man kann es verwerfen oder man kann es in einem Symptom verarbeiten.

In der sympathischen Welle von Miteinander, Hilfsbereitschaft und Nähe in der Distanz entstand am Anfang der Krise für viele Menschen nicht das Empfinden der Spannung, sondern im Gegenteil das Empfinden eines vertieften Bandes. Weder Angst noch Einschränkungen standen im Vordergrund, sondern etwas Anziehendes und Belebendes, als könnte das Entfremdende in einem Gefühl des Zusammengehörens aufgehoben werden. In der erzwungenen Isolierung schrieb und telefonierte man sich wahrscheinlich so viel wie sonst nie. Die Kehrseite wurde erst mit der Zeit spürbar: Die gebotene Vernunft hatte über die kritische triumphiert, denn sie fand emotionale Unterstützung in einer kaum hinterfragten Bereitwilligkeit, Opfer zu bringen.

Die zweite Phase, in der wir uns gegenwärtig befinden, ist darum weniger homogen und es zeichnen sich verschiedene Möglichkeiten ab, wie das Spannungsverhältnis der Entfremdung erlebt werden kann, wenn sich das kritische Denken und die Wünsche, mehr individuellen Gestaltungsspielraum zu haben, wieder melden. Es wird entscheidend sein, ob es uns gelingt, dieses Spannungsverhältnis auszuhalten und behutsam im Hinnehmen wesentlicher und im Abschütteln überflüssiger Einengungen neue Kompromisse zu finden. Die Herausforderung ist, uns im Uneindeutigen, Fragilen, stets Vorläufigen und Zerrissenen zurecht zu finden.

Es gibt verschiedene Körpersymptome, die anzeigen, wie schwierig dies ist. Sie gehen von hypochondrischen Krankheitsängsten beim leisesten Hüsteln bis zu Angst und Panik, die Umsicht und Vorsicht überwältigen.

Und es gibt auch die wachsende Gefahr, das Spannungsverhältnis zu verwerfen, indem wir klare und eindeutige Lösungen einfordern. In die eine Richtung treibt dies eine bornierte Aufmüpfigkeit hervor, die die beschränkenden Gebote der Stunde in den Wind schlägt. Und auf der andern Seite droht kuhäugige Gläubigkeit, die jedes kritische Denken vermissen lässt.

Diese letztere neigt dann auch zu selbsternanntem Polizistentum. Denn die sprengenden Wünsche, die sie bei sich selbst unterdrückt, werden projektiv bei andern bekämpft, die sich weniger Zwang antun. Das nicht ausgehaltene Spannungsverhältnis kehrt dann wieder in einem Kampf von Repression und Rebellion. Leider geraten die Behörden in die gleiche Falle, wenn sie zu drohen beginnen: Wenn wir uns nicht an die Einschränkungen halten, dann müssen sie verschärft werden. Man sollte nicht den Fehler machen, die Leitlinien des doch immer noch mit der Vernunft verbündeten medizinisch-hygienischen Diskurses durch diejenigen des polizeilichen Diskurses zu ersetzen. Ausgangssperren, wie sie in Spanien oder Frankreich, wo der Präsident die Vernunft in einer Rhetorik des Krieges erstickt, verhängt wurden, verschärfen das Problem der Entfremdung. Die Schweizer Behörden sind sicher gut beraten, wenn sie diese Richtung nicht einschlagen und ihre besonnene Haltung beibehalten. Ohne umgekehrt auch dem Druck derjenigen nachzugeben, die ihre eigenen (wirtschaftlichen) Interessen über alles stellen.